Die Insel der verschwundenen Strassen

Die widersprüchlichen Meldungen über die Präsidentenwahl in Madagaskar waren für den durchschnittlichen Zeitungsleser verwirrend genug. Als es schließlich zwei Präsidenten gab, die den Sieg für sich beanspruchten, war die Verwirrung für Außenstehende perfekt. Ein wenig Licht in die Vorgänge der weitgehend unbekannten Inselrepublik bringt ein Artikel, den wir in der Schweizer Wochenzeitung WoZ vom 2. Mai 2002 gefunden haben. Wir dokumentieren Ausschnitte daraus.

... Brickaville an der Ostküste der Insel ist ein unscheinbarer Marktflecken ohne Bedeutung, umgeben von tropischer Vegetation. Doch plötzlich tauchte Brickaville in der internationalen Berichterstattung als Ausgangspunkt der politischen Unruhen auf, die Madagaskar seit drei Monaten erschüttern. An der einzigen Strasse gelegen, welche die Hauptstadt Antananarivo und den Hafen von Tamatave verbindet, erhielt der Flecken strategische Bedeutung. Dort steht heute eine der wichtigsten Sperren, welche die Anhänger des früheren Präsidenten Didier Ratsiraka und seiner Ziel der Aktion ist es, so meldet die madagassische Presse, «jegliche Lieferung von Handelsgütern und Treibstoffen aus Tamatave, dem wichtigsten Hafen Madagaskars und gleichzeitig eine Ratsiraka-Hochburg», zu unterbinden und die 367 Kilometer im Landesinnern gelegene Hauptstadt zu lähmen. Dadurch sollen hunderttausende von EinwohnerInnen von Antananarivo, die nach den umstrittenen und gefälschten Wahlresultaten vom 16. Dezember im Millionär Marc Ravalomanana ihren neuen Regierungschef sehen, demoralisiert und ausgehungert werden. Ausserdem sollen die Preise in die Höhe getrieben werden – auf dem Schwarzmarkt gelten inzwischen Höchsttarife, und die lokale Mafia reibt sich die Hände. «Die Hauptstadt ist zunehmend von den Provinzen abgeschnitten, auch was Nahrungsmittel anbetrifft. Der Schwarzmarkt floriert», klagt ein Schweizer Korrespondent in Antananarivo. «Die Untätigkeit der Armee gegenüber diesen Strassensperren ist völlig unsinnig», hält Adelson Razafy, ein madagassischer Journalist, fest und bezichtigt die Armee der Komplizenschaft.

In Antananarivo wurde die Verknappung der Güter so gross, dass der neue Präsident Marc Ravalomanana die Aufhebung der Strassensperren zur Bedingung machte, um die Verhandlungen mit seinem Widersacher Didier Ratsiraka wieder aufzunehmen. Das Ende der Blockade scheint die einzige inner-madagassische Möglichkeit zu sein, um aus der Krise herauszukommen, in die das Land nach den Wahlen geriet. Sie scheint auch der einzige Weg, um an die Vermittlungsversuche zwischen den gegnerischen Lagern anzuknüpfen, die trotz internationalen Bemühungen – Frankreich und Vereinte Nationen an vorderster Front – bisher erfolglos blieben.

Die Blockade von Hafenzugängen hat in Madagaskar eine zwanzigjährige Tradition – zu politischen Zwecken, aber auch aus mafiosen Gründen. Zu normalen Zeiten ist die RN 2 eine der besten Verkehrsachsen der Insel, deren Strassennetz zu einem grossen Teil mangels Unterhalt unbrauchbar ist. Derzeit verstellt ein ganzes Arsenal von Armeegeräten, Barrikaden und gestrandeten Lastwagen den Verkehr in beide Richtungen. Allein die Blockade der RN 2 genügt, um das Leben im Landesinnern unerträglich zu machen. Über diesen Weg bezieht die Hauptstadt ihren ganzen Nachschub an Treibstoff, an Nahrungsmitteln und an Rohstoffen für die Industrie.

Einziges positives Resultat der Blockade der zunehmend isolierteren Hauptstadt: Die Zensur beginnt zu bröckeln. Die Zungen lösen sich, und die drei landesweiten Tageszeitungen – alle den Anliegen des Unternehmers und Jogurtmillionärs Ravalomanana, der auch Stadtpräsident der Hauptstadt ist, ergeben – «beginnen, immer mehr Personen der mafiosen Verbindungen mit Ratsiraka anzuklagen», wie ein in Antananarivo lebender europäischer Mitarbeiter einer Hilfsorganisation erklärt.

... Hauptanklagepunkt der Landespresse ist sicherlich, dass der frühere Präsident seine Hand auf die wichtigsten Wirtschaftszweige gelegt hat. Man wusste bereits von seinem Versuch, ein Familienmonopol auf den Saphir-Abbau zu errichten. Was aber heute zum Vorschein kommt, ist die «ratsirakische Taktik» zur strategischen Kontrolle aller Rohstoffe der Insel. Ratsiraka und seine Verbündeten erreichten sie dank einem umfassenden System der Sperrung und Sabotage am nationalen Strassennetz. Admiral Ratsiraka konnte so ganze Landesgebiete öffnen oder schliessen, wie es ihm beliebte.

Dazu einige ziemlich aussagekräftige Zahlen: Seit Ratsiraka 1975 an die Macht kam, «verschwanden» jährlich 350 bis 1000 Kilometer des Strassennetzes – das schon sehr weitmaschig war. Darüber gibt es nicht nur Gerüchte, sondern ein Dossier des Zentrums für Berufsinformation in der Hauptstadt: «Von 1976 bis 1983 wurde kein Unterhalt, keine Wiederherstellung und schon gar kein Neubau von Strassen mehr registriert», hält die Untersuchung fest. Für die Zeit danach gibt es kaum mehr verlässliche Zahlen. ...

In der Hauptstadt erklären etliche anonyme Quellen, wie das Strassenregime der Regierung heute noch die Mafia von Transportunternehmern bevorzugt. Mit ihren Lastwagen und Geländefahrzeugen seien sie oft die Einzigen, welche das madagassische Strassennetz ohne Behinderung nutzen könnten...

Im Restaurant des früher schicken Kolonialhotels Colbert in der Hauptstadt bestätigt Gérard Laurent (Name geändert), dass es keinen Zweifel daran gibt, dass Mitglieder der politischen Führung Madagaskars in diese Mafia verwickelt sind. ... «Die Sabotage von Strassenstücken ist sehr lukrativ. Im letzten Jahr kamen HändlerInnen aus der Hafenstadt Tamatave in die umliegenden ländlichen Gebiete des Ostens, um die Ernte zu kaufen. Hinter sich sprengten sie die Brücken in die Luft, um VertreterInnen anderer Transportunternehmen oder von Kooperativen den Weg abzuschneiden. Die LandwirtInnen hatten also keine andere Wahl, als den einzigen Abnehmern die Ware zu Schleuderpreisen zu verkaufen. Sobald das Geschäft abgeschlossen war, riefen sie selber die Direktion für öffentliche Bauten an zur raschen Reparatur der Brücken. Nach einigen Tagen fuhren die Lastwagen beladen zurück, um die Ernte zu verkaufen – als Monopolisten entsprechend teuer.»

Um solchen Machenschaften vorzubeugen, war der regelmässige Unterhalt der Strassen seit 1987 Teil der Bedingungen von internationalen Kreditvermittlern wie der Weltbank. Ohne Erfolg. «Die Verantwortlichen kassierten die internationalen Kredite und investierten sie anderswo», kommentiert Vicko Andriamiharisoa, Vizepräsident der Handelskammer Schweiz–Madagaskar. ...

Diese organisierte Sabotage erklärt einen grossen Teil des Entwicklungsrückstandes des Landes. Laut dem früheren Minister für öffentliche Bauten, Jean-Emile Tsaranazy, waren im Jahr 1997 von den 30.000 Kilometern registrierter Strassen im Land gerade 5.000 Kilometer benutzbar. Seither hat sich die Zahl nicht gross verändert. Ungenügende Mittel, mangelnder Unterhalt, Zerfall, Überschwemmungen und Stürme werden vorgeschoben, wann immer die Beamten nach Gründen für das Desaster gefragt werden. Bisher war es unter dem Regime Ratsiraka zu gefährlich, von geplanter Zerstörung zugunsten der «Strassenmafia» zu sprechen.

Mehrere europäische Fachleute, die in den letzten Jahren am Wiederaufbau des Strassennetzes arbeiteten, wurden bedroht oder gar ermordet. Ein italienischer Entwicklungshelfer wurde enthauptet an seinem Arbeitsplatz aufgefunden. Der Schweizer Ingenieur Walter Arnold wurde im Juni 1996 erwürgt in Antananarivo aufgefunden. ... Die madagassische Polizei hat beide Verbrechen nie aufgeklärt.

Gilles Labarthe

Aus: WoZ-Online, 2. Mai 2002