Pierre Vérin: Madagaskar
übersetzt und herausgegeben von Bernd Schmidt
Leipziger Universitätsverlag 2004

von Erich Raab*)

Schon beim ersten flüchtigen Durchblättern des Buches merkt der an Madagaskar Interessierte erfreut: Endlich eine umfassende Darstellung der kulturellen und politischen Geschichte Madagaskars von seinen Anfängen bis in die jüngste Vergangenheit in deutscher Sprache. Was man bisher nur in den einschlägigen Kapiteln über Geschichte, Bevölkerung und Kultur in guten madagassischen Reiseführern, wie dem von Wolfgang Därr oder von Susanne Rössler, kurz zusammengefasst nachlesen konnte, wird hier ausführlich und wissenschaftlich fundiert beschrieben.

Der Autor beginnt mit einer Schilderung seiner Ausgangslage, wie er Madagaskar kennen gelernt hat und was ihm dabei für Eindrücke entstanden sind. Wiewohl er als Franzose während der französischen Kolonialzeit auf die Insel kam, ist dabei von einer kolonialen Betrachtungsweise bei ihm nichts zu spüren. Die Kolonialverwaltung seiner Zeit in den fünfziger Jahren wird im Gegenteil durchaus kritisch kommentiert, und die Sympathie und enge Verbundenheit mit dem Land und seinen Menschen wird schon im ersten Kapitel deutlich.

Ausführlich, kenntnisreich und detailliert wird in den folgenden Kapiteln die Geschichte Madagaskars dargestellt: Die Ankunft der Indonesier und der Afrikaner über die Meere (Kap. II), die frühe Besiedelung des Landes im Hochland und an den Küsten, die Entstehung der Königreiche ab dem 16. Jahrhundert und die ersten Kontakte mit Europäern (Kap. III). Im vierten Kapitel wird die Nationwerdung und die Herausbildung des Staates und Königreichs Madagaskar im 19. Jahrhundert beschrieben.

Unter der Überschrift „Die Zivilisation der Ahnen“ wird im fünften Kapitel ein Abschnitt eingeschoben, in dem dargestellt wird, auf welche Sitten und Gebräuche, auf welche madagassische Kultur die ersten Europäer trafen, die ab dem 16. Jahrhundert nach Madagaskar kamen und darüber berichteten.

Mit der Unterwerfung Madagaskars durch Frankreich 1895 gingen die „madagassischen Zeiten“ zu Ende (Kap. VI). Die französische Kolonialzeit war für den Rezensenten so etwas wie eine black box. Es gibt darüber kaum Literatur in deutscher Sprache. Umso dankbarer ist man über die differenzierte und erkennbar koloniekritische Darstellung dieser Epoche durch den Autor. Pierre Vérin beschreibt nicht nur die „koloniale Befriedung“, die verkehrsmäßige und wirtschaftliche Erschließung des Landes durch die Kolonialverwaltung; er geht auch ausführlich auf die Unabhängigkeitsbestrebungen und Befreiungsbewegungen ein – von 1915 über 1929 und auf den blutig niedergeschlagenen Aufstand von 1947 bis Madagaskar 1960 endlich seine Souveränität wiedererhielt.

Was folgt (Kap. VII – IX) ist Zeitgeschichte. Das postkoloniale, frankophile, sozialdemokratische Regime Tsirananas wurde 1972 nach einer Studentenrevolte beendet und damit die Ablösung von Frankreich endgültig vollzogen. 1975 wurde Didier Ratsiraka von der Militärführung als Präsident eingesetzt und leitete eine Periode des madagassischen Sozialismus ein. Der wirtschaftliche Niedergang des Landes, der nach zehn Jahren Wachstum 1970 eingesetzt hatte, ging dennoch weiter, so dass das sozialistische Experiment in den achtziger Jahren aufgegeben wurde und Madagaskar sich wieder für die internationalen Institutionen öffnete. Vérin beschreibt diese wechselvollen politischen Ereignisse auch der neunziger Jahre nüchtern und neutral.
Die Geschichte endet mit der Machtübernahme Ravalomananas und der Flucht Ratsirakas ins französische Exil im Jahre 2002. Eine geschichtliche Einordnung der nun folgenden Epoche ist erst ansatzweise möglich. Ravalomanana ist für viele Madagassen heute noch ein Hoffnungsträger, der das Land aus dem politischen und wirtschaftlichen Niedergang befreien soll. Ob dies gelingt, wird die Zeit zeigen.

Das Buch endet mit einem Kapitel (X) über die „Reichtümer der großen Insel“. Potentielle Besucher werden mit der Gegenwartskultur Madagaskars vertaut gemacht. Religiöse Kulte und Bräuche, Schnitzkunst für Grabmale und Haushaltsgegenstände, Malerei und Musik, Literatur, Sprache und Philosophie der Madagassen werden vorgestellt.

Im Anhang finden sich Hinweise auf weiterführende Literatur zum Land und seiner Natur, zu den Regionen, zu Soziologie und Geschichte und zu Sprache und Literatur. Was fehlt ist ein Glossar. Dem Leser, der mit der madagassischen Sprache und den in der Regel schwierigen madagassischen Namen nicht so vertraut ist, wäre damit ein immer wieder nötiges Rückblättern erspart geblieben – was bedeutet der früher im Text erklärte madagassische Begriff, oder wen meint der erwähnte madagassische Name schon wieder?

Der Rezensent hat parallel zu Pierre Vérins Buch die fast zeitgleich als Buch erschienene ethnologische Dissertation von Peter Kneitz über „Die Kirche der Sakalava’ und die vier heiligen Brüder Andriamisara“ gelesen – besser gesagt studiert, denn das Verständnis dieser diffizilen wissenschaftlichen Forschungsarbeit über eine bedeutende madagassische Ethnie setzt ethnologisch-soziologische Vorkenntnisse voraus und ein Minimum an Verständnis madagassischer Begrifflichkeit. Das Glossar war dabei hilfreich. Das Studium dieser Arbeit hat aber auch noch auf einen konzeptionellen Unterschied aufmerksam gemacht. Peter Kneitz hat seine Erkenntnisse über die Kultur der Sakalava wissenschaftlich-analytisch in ihrer gesellschaftspolitischen Bedeutung dargestellt und sich dabei eines theoretischen Bezugsrahmens für die rezente Entwicklung afrikanischer Gesellschaften bedient. Pierre Vérin hat darauf - auf gesellschaftsanalytische Interpretationen und gesellschaftspolitische Positionierung – verzichtet. Sein Buch verbleibt auf der Ebene der Deskription, auch wenn der Autor seine Sympathie für die madagassischen Menschen und ihre Kultur nicht verborgen lässt. Es bleibt letztendlich dem Leser überlassen, seine Schlussfolgerungen aus dem Dargestellten zu ziehen.

„Madagaskar“ von Pierre Vérin und von Bernd Schmidt, einem profunden Madagaskarkenner übersetzt und herausgegeben, ist ein Buch, das für alle an Madagaskar mehr als nur als Touristen Interessierte Pflichtlektüre sein sollte.


Erich Raab M.A. (Soziologie)
Jahrgang 1943
Mitglied des Präsidiums der Deutsch-Madagassischen Gesellschaft
Vorstand der Freunde Madagaskars e.V. München
30 Jahre wissenschaftlicher Referent am Deutschen Jugendinstitut
seit kurzem im Ruhestand

<<< zurück