Symposium der Bischofskonferenzen von Afrika und Madagaskar kritisiert schleichende Rekolonialisierung

Afrika -Kreuzweg eines Volkes

Von Jean-Marc Ela

In Schwarzafrika, wo die gescheiterten Unabhängigkeitsbestrebungen immer wieder neue bittere Enttäuschungen nach sich ziehen, ähnelt das tägliche Leben einem langen Kreuzweg, der Gewissensfragen an die Jünger des Gekreuzigten von Golgota stellt. Dessen wird man sich in den afrikanischen Kirchen allmählich bewußt. "Wann endlich gibt es ein wenig Glück für uns?" fragten sich die Bischöfe von Zaïre, und sie stellten fest: "Die Fälligkeit wird immer hinausgeschoben, und unterdessen gibt es nur schamlose Ausbeutung, organisierte Ausplünderung zum Profit des Auslands und seiner hiesigen Agenten, während das Gros des Volkes im Elend und in Situationen dahinvegetiert, die mitunter künstlich hervorgerufen werden." Nur wenige Länder entrinnen dieser Situation, weil quer durch den ganzen Kontinent ein Prozess der Rekolonialisierung im Gang ist, wie das Symposium der Bischofskonferenzen von Afrika und Madagaskar (SCEAM) in Nairobi aufgezeigt hat.

Um den Glauben in "der Welt unserer heutigen Zeit" zu leben, ist es notwendig, das Ge- wicht der Außenherrschaft zu ermessen, das Afrika lahm legt. Wie es in der Aufforderung der in Yaounde, Kamerun, versammelten Bischöfe heißt, "müssen wir uns der internationalen Beherrschung im politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich bewusst werden (...) und an den entscheidenden Einfluss der multinationalen Gesellschaften denken. Alle diese Faktoren lasten auf dem afrikanischen Kontinent; und sie verewigen dort Unrechtssituationen und schaffen oft unüberwindliche Hindernisse auf dem Weg der Entwicklung und des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts." Das alles verbietet uns eine naive Sicht der Realität unseres Volkes. Zu einem Zeitpunkt, da die Auswirkungen der Abhängigkeit auf mannigfache Weise in Erscheinung treten, während die herrschende Ausbeutung immer neue Formen annimmt, kann man unsere Situation nicht einem Fluch oder einer Schicksalsgegebenheit zuschreiben.

In Wirklichkeit gibt es, wie Johannes Paul II. während seiner Afrikareise in den 80er Jahren feststellte, "Situationen und Systeme im Inneren der Länder und in den zwischenstaatlichen Beziehungen, die den Stempel der Ungerechtigkeit tragen und unzählige Menschen dem Hunger, der Krankheit, der Arbeitslosigkeit, der Unwissenheit und der Stagnation ihrer Entwicklung ausliefern". Sicher trifft es zu, dass Afrika nicht nur einfach ein Tummelfeld der großen Mächte ist. Man muss sich der Verantwortung der führenden einheimischen Klassen im Prozess der Verarmung der Massen bewusst werden. Zur Ungerechtigkeit und Unterdrückung, die von außen her verursacht werden, gesellt sich in der Tat ein ganzes Gefolge von Miseren, die aus den Beziehungen zwischen Staat und Volk entstehen, trotz aller Modernisierungsprogramme und Wachstumsbemühungen, deren Erträge jedoch von den Eliten, die die Macht in Händen haben, mit Beschlag belegt werden.

Es mag genügen, an das Drama der Familien zu erinnern, die von Sorgen erdrückt werden angesichts der Erhöhung der Schulgelder wie auch der medizinischen Kosten in einem Gesundheitssystem, wo mit der Krankheit spekuliert wird. Denken wir auch an den Zustand der Unsicherheit in jenen afrikanischen Ländern, die hinsichtlich der Menschenrechte zu einer Wildnis zu werden drohen. Das Los von Millionen von Flüchtlingen, das Ansteigen eines Vulgär-Rassismus, Ausschluss- und Ausweisungsmaßnahmen, deren Opfer die Schwarzen in den Krisen- Gesellschaften sind, verschlimmern heute die Situation des afrikanischen Menschen. Im Inneren des Kontinents leben wir in politischen Kontexten, in denen trotz der Verschiedenheit der Regime und ideologischen Optionen Gewalt und Folter als übliche Form der Machtausübung erscheinen. Die afrikanischen Bischöfe stellen hierzu die Frage: "Ist die Politik nicht für viele führende Leute zum eigentlichen Weg der Diktatur, des Totalitarismus und der Unterdrückung Schwächerer geworden? Die Redefreiheit und das Recht auf Information sind zu Errungenschaften geworden, deren sich das Volk nur auf sehr unvollkommene Weise oder überhaupt nicht erfreuen kann. In Ländern, in denen die Gesetze verhöhnt werden, wird die menschliche Person zum Spielball einer unkontrollierten Macht, die mit ihrem ganzen Gewicht auf Geist und Körper der Menschen lastet." Hier sind wir weit entfernt vom Afrika der Safaris und der offiziellen Reden, in denen die Versessenheit auf Einheit und Stabilität dazu dient, die Machtpositionen jener Klassen zu festigen, die entschlossen sind, so lange wie möglich Nutzen aus ihren Privilegien zu ziehen.

Diese Sicht der Realität unseres Volkes bestimmt allmählich auch die theologische Entwicklung, die in Schwarzafrika eingesetzt hat: "Wir sind hier in Afrika, der Heimat der Armen, der Schwachen und Unterdrückten", stellte kürzlich der Kameruner Engelbert Mveng bei der Eröffnung des ersten Kolloquiums afrikanischer und europäischer Theologen fest. 1977 hatte die Panafrikanische Konferenz von Dritte-Welt-Theologen in Accra "die Unterdrückung und Ausbeutung des Volkes durch nationale und multinationale Institutionen" herausgestellt. Im Blick auf die "Rand-Rollen, die den Frauen in der Kirche vorbehalten sind", wird die Gesamtsituation unseres Volkes einer ungeschminkten Analyse unterworfen: "Wir haben erkannt, dass es unzählige Formen der Unterdrückung gibt. Es gibt Unterdrückung der Afrikaner durch den weißen Kolonialismus, aber es gibt auch Unterdrückung von Schwarzen durch Schwarze."

Diese Analyse drängt die Afrikas Theologen zu Entscheidungen: "Das Thema der Einordnung der Theologie in diese Situation ist offensichtlich die Befreiung unseres Volkes aus einer Art kultureller Gefangenschaft." Für die Konferenz von Accra aber 'geschieht Unterdrückung nicht nur kulturell, sondern auch in den politischen und wirtschaftlichen Strukturen und in den beherrschenden Massenmedien". Daher, so heißt es in der Schlusserklärung, "muss die afrikanische Theologie auch eine Theologie der Befreiung sein."

Was hier auf dem Spiel steht, ist von entscheidender Bedeutung, denn die Lebensprobleme des heutigen Afrika werden zum Ort eines christlichen Glaubensverständnisses. Es ist eine insofern fruchtbare Herausforderung, als der Theologe aufgerufen ist, nicht nur die Fragen aufzugreifen, die sich aus dem kulturellen Erbe des Volkes stellen, sondern auch diejenigen, die aus den Konflikten erwachsen, die den in der Gesellschaft insgesamt wirkenden Unterdrückungsmechanismen und -strukturen innewohnen. Diese Konflikte, die quer durch die Kultur und die Geschichte gehen, werden zu einer ernsten Frage für die Vertiefung des Glaubens und der Gotteserfahrung im Leben unseres Volkes.

Was in Accra stattgefunden hat, ist gewissermaßen die Versöhnung Afrikas mit sich selbst, da die Geschichte dieses Kontinents nicht nur eine Geschichte der Knechtschaft und Fremdherrschaft ist, sondern auch eine Geschichte des Kampfes und des Widerstandes gegen die Unterdrückung, wie es die Protestbewegungen bezeugen, die über Generationen hinweg zum lebendigen Gedächtnis unseres Volkes gehören.

Jean-Marc Ela, geb. 1936 in Kamerun (Zentral-Afrika) ist der bedeutendste Theologe des heutigen Afrika. Er lebt derzeit im Exil in Kanada, wo er als Gastprofessor an der Universität von Quebec in Montreal tätig ist. Er ist Autor von zahlreichen Büchern, die in viele Sprachen der Welt übersetzt worden sind und die sich mit Theologie, Soziologie, Anthropologie beschäftigen. Er ist der Begründer der "Theologie unter dem Baum".

Wiener Zeitung 27. März 2002