Rede des Bundesministers des Auswärtigen Joschka Fischer aus Anlass des 39. Jahrestages der Organisation für Afrikanische Einheit am 24. Mai 2002 in Berlin

Ich freue mich, Sie heute, am Vorabend des 39. Gründungstags der Organisation für Afrikanische Einheit, hier in Berlin begrüßen zu dürfen.

Zwei aktuelle politische Entwicklungen sind für die Zukunft Afrikas von fundamentaler Bedeutung. Zum einen die Umwandlung der OAE in die Afrikanische Union. Mit diesem ambitionierten Projekt stellen die afrikanischen Staaten die Weichen für eine stärkere Integration auf ihrem Kontinent. Afrika folgt damit dem erfolgreichen Beispiel anderer Regionalorganisationen, ohne freilich deren Modell 1 : 1 zu kopieren. Aus unserer Sicht ist dies ein vielversprechendes, zukunftsweisendes Projekt. Wir wünschen Ihnen, dass es so bald wie möglich mit Leben erfüllt werden kann.

Zum anderen die "Neue Partnerschaft für die Entwicklung Afrikas", NEPAD. Sie wird von einer neuen Generation von visionären und reformorientierten afrikanischen Politikern getragen und vorangetrieben. Die Perspektiven, die sich hieraus ergeben und das große Potential für nachhaltige, von afrikanischer Eigeninitiative und Selbstverantwortung getragene Fortschritte sind sehr ermutigend. Hier zeigt sich ein neues Denken, eine neue Dynamik, die dazu beitragen werden, daß Afrika den ihm zustehenden Platz im Rahmen der Weltgemeinschaft einnehmen kann. Ein Afrika, in dem die Herrschaft des Rechts, die Demokratie und die Menschenrechte gestärkt und weiter ausgebaut werden.

Afrika ist der Kontinent, der an der Globalisierung bisher am wenigsten positiv teilhaben konnte. Die Debatte um die Globalisierung ist nicht allein eine Debatte über ökonomische Effizienz, sondern auch und gerade über Werte und Verantwortung. Nachhaltige ökonomische und soziale Entwicklung bauen beim Übergang in die Wissensgesellschaft mehr und mehr auf der Kreativität und damit auf der Freiheit der Bürger auf. Freiheit setzt einen funktionierenden Rechtsstaat voraus, eine offene demokratische Gesellschaft. „Good governance" ist daher kein „soft issue", sondern eine der ganz harten Fragen des 21. Jahrhunderts, denn an ihr hängen auch die Friedensfähigkeit und der ökonomische Erfolg dieser Gesellschaften.

Es ist beeindruckend, in welcher Klarheit die NEPAD-Initiative gerade diesen Punkt aufgreift. Ohne die verheerenden Folgen des Kolonialismus zu vergessen, konzentriert sie sich auf die heutigen Probleme Afrikas, aber vor allem auf die notwendigen Ansätze zu ihrer Lösung. An erster Stelle steht dabei der Wille, das politische und gesellschaftliche Schicksal Afrikas in die eigenen Hände zu nehmen. Mit einem Wort: "African Ownership". Wir begrüßen nachdrücklich, dass die Führer Afrikas sich klar dazu bekannt haben, dass NEPAD ein politisches Instrument ist, um die dringlichen Reformen anzustoßen.

In dem Gründungsdokument von NEPAD heißt es unmißverständlich: Frieden und Gerechtigkeit bedingen einander. Zusammen bilden sie die Grundvoraussetzung für nachhaltige Entwicklung in Afrika. Die Gründer von NEPAD haben mit schonungslosem Blick für die Probleme Afrikas zentrale Reformprojekte benannt. Sie zielen auf den Kampf gegen Korruption und schlechte Regierungsführung, auf eine intensivere Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten, auf friedliche Konfliktlösung, transparentere Finanzmärkte und eine wirksamere Förderung der Privatwirtschaft.

Es soll hier offensichtlich nicht bei Lippenbekenntnissen bleiben. Die sogenannte Peer review zeigt eindrucksvoll, dass die Afrikaner auf die Umsetzung ihrer Ziele für gute Regierungsführung nicht nur Wert legen, sondern bereit sind, sie auch gegen Widerstände einzufordern und durchzusetzen. Afrika bricht damit mit einer langen Tradition, sich einseitig an den Vorstellungen von staatlicher Souveränität und Nichteinmischung zu orientieren. Wir können Sie nur ermutigen, auf diesem Weg weiter voranzugehen.

Ich sehe in den Grundzügen von NEPAD eine große Übereinstimmung mit den Leitlinien der deutschen und der europäischen Afrikapolitik. Die Zusammenarbeit zwischen Afrika und Europa, zwischen Afrika und Deutschland braucht eine neue Partnerschaft mit der richtigen Balance von Solidarität und Selbstverantwortung. Dies ist keine Flucht Europas vor seiner Verantwortung, sei es für die Kolonisierung und ihre bis heute spürbaren Folgen, sei es für die Zukunft unseres Nachbarkontinents. Selbstverantwortung Afrikas heißt für uns Europäer Abschied von jenem Paternalismus, der einen Gutteil vergangener Entwicklungspolitik prägte.

Lassen Sie mich aber gleich an dieser Stelle in aller Deutlichkeit sagen: Niemand bestreitet die Notwendigkeit einer Landreform in Simbabwe wie in anderen Staaten des südlichen Afrikas. Dies kann jedoch unter keinen Umständen eine systematische Politik, die zu Mord und unrechtmäßiger Enteignung aufruft, rechtfertigen – egal ob davon Weiße oder Schwarze betroffen sind. Wir erwarten von Afrika nicht, eine demokratische Entwicklung, die in Europa Jahrhunderte gedauert hat, in wenigen Jahren nachzuholen. Aber wir werden eine gefährliche und unverantwortliche Politik wie in Simbabwe und die Reaktionen auf sie an den von Afrika selbst aufgestellten Maßstäben messen.

Afrika steht im Mittelpunkt des diesjährigen Wirtschaftsgipfels in Kanada. Die Staaten der G-8 werden dort einen Afrika- Aktionsplan beschliessen, der alle zentralen Anliegen von NEPAD aufgreift. Damit haben die G8 zum ersten Mal überhaupt einen Kontinent ganz oben auf ihre Agenda gesetzt. Einmalig ist auch die Intensität des politischen Dialogs mit den afrikanischen Staaten. Die Staats- und Regierungschefs der G8 haben zur Vorbereitung des Afrika-Aktionsplans persönliche Beauftragte – auf deutscher Seite ist es die Ihnen wohlbekannte Staatssekretärin Uschi Eid - ernannt, die den Gipfel sehr engagiert vorbereiten.

Wir wollen uns mit dem Aktionsplan den berechtigten Erwartungen Afrikas an die internationale Gemeinschaft stellen. Im Mittelpunkt werden für die Förderung der afrikanischen Entwicklung zentrale Themen stehen: Frieden und Sicherheit, gute Regierungsführung, Bildung und Gesundheit, Wachstum, Handel und Investitionen. Lassen Sie mich nur zwei Beispiele herausgreifen: Beim Handel geht es etwa darum, afrikanischen Erzeugnissen uneingeschränkten, direkten und einfachen Zugang zu den Märkten der großen Industriestaaten zu verschaffen, eine ganz entscheidende Voraussetzung für ökonomischen Erfolg. Dazu müssen wir am Abbau unserer eigenen Agrarsubventionen arbeiten. Auch wollen wir die Bemühungen Afrikas zu Verhütung und Bewältigung gewaltsamer Konflikte auf allen Ebenen noch intensiver fördern, vor allem durch die Stärkung der Regionalorganisationen.

Mit dem Afrika-Aktionsplan – lassen Sie mich dies deutlich sagen - geht es nicht um neue Finanzzusagen oder um die Schaffung zusätzlicher Institutionen. Er wird vielmehr wie NEPAD selbst ein politisches Programm sein, mit dem wir die Staaten Afrikas in ihren eigenen Anstrengungen voranbringen wollen und auf dessen Grundlage wir zu einer neuen, vertieften Partnerschaft mit Afrika gelangen wollen.

Die afrikanische Initiative beweist einmal mehr, wie einseitig die öffentliche Wahrnehmung eines ganzen Kontinents ist, der viel zu oft auf Kriege, Katastrophen, korrupte Regime oder furchtbare Krankheiten reduziert wird. Die unter oftmals schwierigsten Bedingungen erzielten Erfolge und Reformbemühungen bleiben vielfach unbeachtet: Die Überwindung des Apartheidsystems und der friedliche Wandel in Südafrika wurden weltweit gefeiert. Demokratische Reformprozesse fanden jedoch nicht nur in Südafrika statt: 42 von 48 Ländern südlich der Sahara haben im vergangenen Jahrzehnt demokratische Wahlen durchgeführt – wenn auch leider nicht immer nach internationalem Standard. Dabei wurden zahlreiche Machthaber nach teilweise jahrzehntelanger Herrschaft friedlich abgelöst.

Langjährige und blutige Bürgerkriege wurden beendet und Friedens- und Versöhnungsprozesse in Gang gebracht, wie in Mosambik, Angola, Sierra Leone, auf den Komoren oder zwischen Äthiopien und Eritrea. Und obwohl Afrikas Einbindung in die Weltwirtschaft leider noch immer als marginal bezeichnet werden muss, konnten gerade reformorientierte Länder beeindruckende Wachstumsraten erzielen.

Wir sehen neben erfreulich aufgehellten Perspektiven durchaus aber auch die düsteren Realitäten, mit denen Afrika weiterhin konfrontiert ist. Afrika wird nach wie vor von Krisen und Konflikten heimgesucht, deren Ausmaß oft die menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Unterentwicklung, Armut und Elend prägen die Realität in weiten Teilen des Kontinents. Und die verheerende Ausbreitung von AIDS, aber auch anderer Krankheiten wie Malaria und Tuberkulose, bedrohen Entwicklung und Stabilität ganzer Gesellschaften.

Angesichts der gewaltigen Dimension der Probleme Afrikas sehe ich neben afrikanischen Eigenanstrengungen eine zwingende Notwendigkeit der fortgesetzten internationalen Solidarität. Für die Bundesregierung heißt dies konkret: schnelle und umfassende humanitäre Hilfe bei Natur- und Hungerkatastrophen, von denen Afrika immer wieder besonders schwer betroffen ist, Hilfe bei der Armutsbekämpfung und – immer wichtiger - beim Kampf gegen AIDS. Die verheerenden Auswirkungen dieser Pandemie bedrohen vor allem die Generation zwischen 15 und 45, die Afrika für einen Aufschwung so dringend braucht. Prävention und Aufklärung weiter zu stärken und gleichzeitig den Zugang zu billigen Medikamenten zu verbessern ist die einzig richtige Doppelstrategie. Die Bundesregierung unterstützt deshalb mit allem Nachdruck und erheblichen Mitteln den auf Initiative von Generalsekretär Kofi Annan eingerichteten globalen Gesundheitsfonds und setzt sich konkret für erhöhte Auszahlungen an Afrika ein.

Solidarität heißt, die ärmsten Länder nicht im Teufelskreis der Verschuldung allein zu lassen. Die Kölner Schuldeninitiative, das EU-Partnerschaftsabkommen von Cotonou und die Zusage des Bundeskanzlers auf dem EU-Afrika-Gipfel in Kairo, bilaterale Schulden sogar vollständig zu streichen, setzen in vielen Ländern neue Ressourcen für die wirtschaftliche Entwicklung frei. Von der Kölner Schuldeninitiative haben mittlerweile 26 Länder profitiert, 22 davon aus Afrika. Hierdurch werden die betroffenen Länder von untragbarer Schuldenlast befreit und können ihre knappen Mittel in Armutsbekämpfung, Bildung und Gesundheitsversorgung investieren. Allerdings ist Schuldenerlaß – das muss dabei immer klar sein – allein nicht entscheidend. Was langfristig zählt, ist eine gute Politik.

Solidarität heißt auch eine konsequente europäische Politik der Marktöffnung für afrikanische Exporte. Faire Handelschancen eröffnen den afrikanischen Ländern Chancen, eine wirtschaftliche Entwicklung aus eigener Kraft voranzubringen. Sie sind damit eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass diese den Anschluss an die Globalisierung finden können. An dieser Stelle ist leider manche Kritik am Westen berechtigt, denn wie können wir von den armen und ärmsten Ländern Verständnis erwarten, wenn ihnen die Öffnung ihrer Märkte verordnet wird, wir zugleich aber unsere eigenen abschotten? Hier ist eine Umkehr dringend geboten.

Mit der Entscheidung der EU, die Märkte für alle Produkte (außer Waffen) der am wenigsten entwickelten Länder zu öffnen, ist ein erster wichtiger Schritt getan. Wir werden uns für eine konsequente Fortsetzung der Kölner Schuldeninitiative und in den G8 und auch in der neuen Welthandelsrunde für weitere Marktöffnung und den Abbau von Subventionen einsetzen.

Solidarität heißt schließlich mehr Geld für Entwicklung. Unmittelbar vor der kürzlich abgeschlossenen Weltkonferenz über Entwicklungsfinanzierung in Monterrey hat der Europäische Rat in Barcelona beschlossen, die öffentlichen Entwicklungshilfeleistungen der EU insgesamt bis zum Jahr 2006 auf durchschnittlich 0,39% des BSP zu erhöhen. Alle EU- Mitgliedstaaten, die den EU-Durchschnitt von 0,33% noch nicht erreicht haben, werden in jedem Fall bestrebt sein, bis 2006 zumindest diese Marke zu erreichen. Auch dies wird gerade Afrika zu Gute kommen. Uns ist andererseits klar, dass auch wir trotz aller Haushaltszwänge unsere nationalen Anstrengungen in den kommenden Jahren verstärken müssen.

Afrika wird auch in diesem Jahr mit dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg Schauplatz einer besonders wichtigen Konferenz der Vereinten Nationen sein. Die richtige Verknüpfung von Armutsbekämpfung und globalem Umweltschutz bleibt auch zehn Jahre nach Rio der Schlüssel für eine nachhaltige Entwicklung. Wir werden uns in Johannesburg für eine stärkere Nutzung erneuerbarer Energien, die Lösung der globalen Wasserkrise, konkrete Fortschritte auf dem Weg zur weltweiten Halbierung extremer Armut sowie die Stärkung der Vereinten Nationen und ihrer Institutionen im Bereich nachhaltige Entwicklung einsetzen.

Eine gerechtere, nachhaltige Entwicklung Afrikas ist für Europa nicht nur ein moralisches Gebot, sie liegt als Nachbarkontinent auch in unserem elementaren Eigeninteresse. Deutschland und Europa sind entschlossen, den Problemen der armen und ärmsten Ländern künftig besondere Aufmerksamkeit zu schenken und sie in ihren Bemühungen um Frieden und Entwicklung verstärkt zu unterstützen. Unsere Bemühungen um Frieden und Entwicklung in Afrika sind auch ein Beitrag dazu, dass in "failing states" und Gebieten des totalen Ordnungsverlustes der Terrorismus nicht neue Brutstätten findet.

Von VN-Generalsekretär Kofi Annan stammt die Feststellung: "Keine der Herausforderungen, denen wir am 10. September gegenüberstanden, ist weniger dringlich geworden." Das ist wahr. Die Globalisierung zusammen mit den Ländern Afrikas politisch zu gestalten – indem wir gemeinsam Entwicklungschancen fördern, aber auch Verantwortung fordern – ist eine der wichtigsten Aufgaben am Anfang dieses Jahrhunderts. Es ist das wichtigste Ziel der deutschen Afrikapolitik und wir werden uns für dieses Ziel im Kreis der G8 und gegenüber unseren anderen Partnern einsetzen.

In diesem Sinne möchte ich Ihnen nochmals für die Einladung danken und Ihnen für die wichtigen Initiativen der Afrikanischen Union und für die "Neue Partnerschaft für die Entwicklung Afrikas", vor allem aber die Zukunft Afrikas und seiner wunderbaren Menschen alles Gute wünschen.